Es ist mein Leben

Zunächst einmal: es sind nur noch zwei Wochen hier. Ich beginne, die Kürze der verbleibenden Zeit zu spüren. Gemischt mit der großen Freude, wieder nach Hause zu kommen, ist das ein sonderbares Gefühl.

Natürlich auch die Frage: werde ich die vielen Menschen, die ich hier kennengelernt habe, wiedersehen und wann?

Aber das ist jetzt nicht zu beantworten. 

Also versuche ich gerade, so viel wie möglich mich mit einzelnen zu treffen.

Zum Beispiel mit der 92jährigen Sarah aus Breslau. Ich höre ihr sehr gerne zu, warte, bis der nächste Gedanke über ihre Lippen kommt. 

Lausche. Stelle manchmal eine Frage. Meist folge ich ihr einfach beim Zuhören.

So eine kluge Frau. Mutter von 6 Kindern. Wissbegierig, gebildet, bedauert bis heute ihren fehlenden Schulabschluss. Denn als sie mit einer Gruppe von Jugendlichen hier ankam, direkt nach Kriegsende, ging es zum Arbeiten in den Kibuzz. Keine Erlaubnis für weiterführende Schule. Dass der Vater im Lager an Hunger starb, erfuhr sie noch bevor sie zu einer belgischen Familie gegeben wurde. Dort war sie für ein paar Jahre als christliche Tochter untergetaucht.

Die Mutter starb in Auschwitz. Sarah erfuhr es erst später, von Menschen, die Auschwitz überlebt hatten.

Ihre Nachbarin ist Shoshana.

Dieses Haus hier ist voller abgrundtiefer Geschichten. Wand an Wand. Das Zusammensein in dem Heim gibt Halt, vielleicht manchmal Trost, es verbindet. Und hinter den Bewohnern liegt ein langes Leben. Mit allem  was das Leben normal und lebenswert macht. Familien wurden gegründet, man hat einen Beruf gelernt, gearbeitet, das Land mit aufgebaut. 

Natürlich auch Militärdienst, Enttäuschungen, Trennungen, Verluste. Die großen und kleinen Fehler. 

Wie sagte heute Sarah? Viele reden schlecht über die Araber. Aber es gibt gute und schlechte Araber. Und so ist es auch bei den Juden, fügt sie mit energischer Stimme hinzu. Eine Binsenweisheit, aber tatsächlich elementar hier und Sarah spricht es aus als müsste sie gegen einen äußeren Widerstand ansprechen. 

Was die meisten hier im Heim vereint, ist die tiefe Liebe zum Land. Begreife ich das emotional ? 

Ich staune immer wieder über diese Lebensfreude. Zum Beispiel bei der wöchentlich stattfindenden Gesprächsrunde am Shabat Ende. Da wird diskutiert, dass die Fetzen fliegen. Über das Land, die Vergangenheit, die alten Wunden, aber auch, wie man man das Geld für einen Arztbesuch von Behörden zurückbekommen kann, oder wie man Jom Kippur begeht, den Hohen Feiertag, wo vom Abend bis zum nächsten Abend gefastet wird. Das ist für manche der Älteren nur noch schwer möglich, so ganz ohne Wasser. Also wird darüber praktisch nachgedacht. 

Rita sagte neulich: Ich will nicht die ganze Zeit über den Holocaust reden. Dann stecke ich in dieser Zeit fest. Es ist mein Leben. Und ich lebe nur jetzt.

Und mein Leben? 

Am Abend gebe ich ein Schauspiel - Training für Orin, einen jungen Schauspieler, den ich neulich kennen gelernt habe. Unser Probenraum: der Luftschutzbunker unten in seinem Wohnblock. 2006 wurde er zuletzt als Bunker benutzt. Orin erinnert sich. Erzählt es wie nebenbei, als sei das normal. Der Raum hat  Charme - Stahltür, zwei Toiletten hinter Metalltüren, ein paar alte Stühle, Platz für ca 70 Bewohner, dann wirds richtig eng. Er ist nur für kurzes Warten ausgelegt. Und wird hoffentlich nie wieder gebraucht, denke ich. Um mich dann mit Freude in mein Schauspieltraining zu begeben. Es macht Spaß, ich bin in meinem Element, ich freue mich auf mein Theater zu Hause- es ist mein Leben.