Feiertag

Das Laubütten-Fest rückt näher. 

Überall werden die Laubütten vor den Häusern aufgebaut. 

Diese einst improvisierten Hütten bekommt man jetzt im Bausatz. Sie erinnern an den alten Brauch, als das jüdische Volk durch die Wüste wanderte. In den Tagen dieses Festes halten sich die Familien viel in diesen Hütten auf, essen dort. 

Aber noch stehen die Hütten leer. Morgen Abend beginnt Yom Kippur. Ich bin neugierig auf diesen Feiertag. 

 

Judith will zum Arzt. Sie  hat Schmerzen im Auge. 

Wird an der Rezeption abgewimmelt, bleibt hartnäckig, wird abgewimmelt, bleibt hartnäckig...

Bekommt einen Termin am 2. Dezember. Das hab ich doch schon einmal erlebt... mit Fanny. 

Wir machen was aus dieser Fahrt, sitzen im Café.

Judith löffelt ihren Eisbecher. Sagt , sie sei eine Naschkatze. Erzählt von dem leckeren Essen, das die Mutter immer gekocht hat.

Plötzlich fällt sie zurück in eine Erinnerung. Das passiert hier manchmal ganz plötzlich.

Ich erfahre von dem Moment, als sie ihren Vater zuletzt sah. Judith erzählt von den Lagern, in denen sie war. Reiht deren Namen aneinander. 

Sie wird still, schweift ab

Judith?

Ich lege meine Hand vor sie auf den Tisch. 

Sie legt ihre darauf, vergleicht beide Hände lachend, um dann zu murmeln: Man soll sich nicht erinnern. Es tut nur weh.

 

Heute nun beginnt Yom Kippur. Es ist der Tag, an dem um Vergebung gebeten wird. 

Man kleidet sich in Weiß, man fastet von heute Abend bis zum Abend des nächsten Tages.

Die Straßen sind leer. Die Geschäfte geschlossen. Das Radio , der Fernseher senden nicht mehr. Stille

Um 16 Uhr die letzte gemeinsame Mahlzeit. 

 

Danach wird der Speisesaal umgewandelt in eine Synagoge. Eine Tür an der Wand steht geöffnet, dahinter ist der Thoraschrein. Noch geschlossen. 

 

Wir Frauen sitzen hinten, aber ohne trennenden Vorhang, wie schön. 

Es kommt ein Rabbiner und weitere Männer von außerhalb dazu, denn die Männer hier würden nicht ausreichen, um die Minjan, die erforderliche Mindestanzahl von 10 Männern, zusammenzubekommen.

Wie kann ich beschreiben, in welcher Stimmung die  Menschen hier nun sind. Es ist festlich, ernst, nachdenklich. Die Gebete in der Synagoge haben etwas Insistierendes, Eindringliches. Das spüre ich, ohne sie zu verstehen.

Spät am Abend gehen wir nach Hause, 

Noch ein Weilchen miteinander auf unserem Weg, langsam, langsam... Sie stützen sich auf ihren Stock, laufen Treppen, wo sie sonst den Fahrstuhl benutzen- man wünscht einander gute Nacht:

Naomi mit ihrem Mann Avraham, , Miriam am Arm ihrer Betreuerin, ich an der Seite von Judith - Kerzen brennen in ihrem Zimmer, ich verabschiede mich zärtlich von ihr. Sie sieht ernst aus, vermisst jemanden, ich kann es sehen. 

Ich habe wieder dieses Enkelingefühl... 

Laila Tov.. Gute Nacht  und bis zum nächsten Morgen in der Synagoge.

 

Ich beginne meinen Morgen mit einem ausgedehnten Telefonat mit meiner Tochter- 

In meinen weißen Kleidern stehe ich unter einem Baum im Schatten, das Handy am Ohr, eine vorbei laufende Frau wirft irritierte Blicke auf mich... 

Telefon? Heute? 

Kurzer innerer Check: Es ist mein Leben, ich habe andere Regeln. Und ich freue mich, dass meine Tochter gerade Zeit hat zum quasseln. 

Alles darf sein. Wir plaudern ausgiebig, bis beide das Gefühl haben, nun ist genug. Herrlich. 

Danach verbringe ich mehrere Stunden unter den Singenden, Betenden- tauche ein und unter. Sitze hinten bei den Frauen, erlebe die Trennung und das Ausgeschlossen sein vom "EIGENTLICHEN" immer wieder aufs Neue. Das wird natürlich noch verstärkt dadurch, dass die alten Damen nicht so gut in den Büchern mitlesen können, weil sie ungeübt sind oder auch kurzsichtig. Es ist  ein häufiges Blättern und Suchen hinten bei uns. Dennoch sind wir Frauen hier in dieser Synagoge viel mehr einbezogen: Shimon, der Leiter des Heims, schaut nach uns, manchmal kommt einer der Männer zu uns und zeigt uns die Stelle im Buch. Ich versuche mitzulesen. Die alten Worte.

Da stehen sie, schwarz auf weiß.

Die Psalmen. 

Das Amen.

Ich schnappe manchmal eine Textzeile auf, verliere jedoch nach kurzer Zeit wieder den Anschluss, denn das Sprechtempo der Männer vorn ist hoch. Die  Männer kennen ihren Text. Können mit fortschreitender Zeit sich immer tiefer einlassen in den Strom des Gebets, in die Anrufungen , in den Singsang. Warum hat man uns Frauen das vorenthalten? Mir ist der Sinn dafür nicht klar, ich würde ihn wahrscheinlich ohnehin nicht annehmen können. 

Mit diesen Gedanken spüre ich: 

Es ist Zeit für eine Pause- ich besuche  Judith in ihrem Zimmer. Wir hatten uns für heute verabredet Sie spricht mit mir über Politik und das Land. Die Araber hier, die Flüchtlinge bei uns- sie zeigt mir offen ihre Meinung und stellt mir Fragen, die anstrengend sind. 

Im Kern liegt vor mir plötzlich die große , allgemeine, nicht heilen wollende Wunde, auf die ich hier schon mehrfach traf: 

Warum denkt alle Welt schlecht von den Juden?

warum wird das Land international so wenig unterstützt? 

Warum kümmert sich Deutschland jetzt so ausführlich um die Flüchtlinge...während damals...

In dieser Thematik kommt man nicht auf den Grund. Ich erzähle ihr von meinem Land, wie sehr es sich geändert hat seit damals, öffne ihr den Blick ein wenig für unsere Themen, wir landen immer wieder in Sackgassen oder einfach Enttäuschungsmustern. Ratlosigkeit macht sich in Judiths kleinem Zimmer breit. Und ich erlebe, wie schon so oft: nichts ist wirklich vorbei und alles hängt so eng zusammen. 

Ich höre ihr noch zu- innerlich entsteht ein Bild vor meinen Augen: Ich sehe uns plötzlich alle schwimmen.. nackte Menschen rudern wir  mit den Armen, der eine schwimmt schneller, der andere  langsamer. Einer geht unter, ein anderer schwimmt hinterher, wir schwimmen weiter. Wir alle wollen uns in dem Wasser bewegen, auf ein unbestimmtes Ziel zu, manchmal stößt man an einen anderen an- strampelt mit den Füßen, schluckt Wasser, nimmt einen anderen ein Stück auf dem Rücken mit, um dann doch wieder alleine zu schwimmen.

Ab 16 Uhr bleibe ich in dem Synagogenmarathon bis abends 20 Uhr. 

Mit einem kraftvollen Amen schließt sich vorn der Thoraschrein zum letzten Mal. Zurück bleibt eine aufgeladene, glückliche, hungrige Gemeinschaft. Es gibt ein Nachtessen, dann noch ein schönes Gespräch mit Nahum und Clara. 

Chaja nimmt mich in den Arm und sagt zu mir: jedes Jahr an Yom Kippur wirst du an dein erstes Yom Kippur und an uns hier denken. 

Und so wird es sein.

Unser Speisesaal wird zur Synagoge
Unser Speisesaal wird zur Synagoge
Nahum. Seine Lebensfreude ist ansteckend!
Nahum. Seine Lebensfreude ist ansteckend!