Ich stehe in den hohen Wellen im Meer in Haifa, lasse mich hin und her werfen, das Salz brennt in meinen Augen, mischt sich mit den Tränen.
Immer wenn ich ins Meer tauche, egal an welchem Ort, werde ich für einen Augenblick zurück geholt in meine Kindheit. Aufgewachsen bin ich in einer Plattenbausiedlung in Chemnitz, in einer für damalige Verhältnisse begehrten Wohngegend. Die Häuser stehen heute noch, sind wahrlich nicht für die Ewigkeit gebaut, werden teilweise saniert und wo sie nicht saniert werden, modern sie vor sich hin. Damals waren die Bäume noch klein, auf den Asphaltbahnen, die um die Häuser in Runden ziehen, habe ich Radfahren gelernt und mit Kreide "Himmel und Hölle" gekritzelt. Raus aus dem Plattenbau ging es in jedem Sommer an die Ostsee! Das Baden im Meer, der herrliche, weite Sandstrand auf Rügen, der Blick aufs endlose Wasser in eine Richtung, wo wir nie hingelangen konnten, aber wenigstens träumen- das war unsere Freiheit im Sozialismus. Immer wenn ich irgendwo auf der Welt ins Meer tauche, werde ich für einen Moment wieder zum kleinen Mädchen am Ostseestrand in Rostock- Warnemünde, schwimme für Bruchteile von Sekunden durch Schlösser auf dem Meeresgrund bei Zinnowitz, liege als stumme Wassernixe am Ufer der Insel Rügen und rette den Prinzen...
Das Salz des Wassers im Mittelmeer bei Haifa mischt sich mit den Tränen. Die Tränen sind Sehnsucht. Heimweh. Entsetzen:
In Chemnitz wird ein Mensch von Asylbewerbern erstochen. In Chemnitz werden Menschen mit dunkler Hautfarbe auf der Straße gejagd. In Chemnitz wird ein jüdisches Lokal angegriffen, dessen Besitzer an der Schulter verletzt - "Hau ab du judensau" wird ihm zugebrüllt. Die übelste braune Kloake wird da gerade hochgespült. In Chemnitz gehen tagtäglich neue Meldungen von Opfern ein, bisher sind es mindestens 39 Fälle, in denen Ménschen davon berichten, dass sie verfolgt, gejagd, angegriffen wurden.
Was passiert auf der politischen Bühne? Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans- Georg Maaßen und der Innenminister Horst Seehofer diskutieren, ob die Vorfälle tatsächlich stattgefunden haben oder nur Videofakes sind... etwas zieht mir den Boden unter den Füßen weg- ich bekomme Angst, verliere den Halt...Wo geht es hin in Deutschland? Und ist es nur eine vorübergehende Zeit, und haben das die Menschen 1933 auch gedacht? Der Boden schwankt- eine riesengroße Welle, die vom Ufer zurückschwemmt ins Meer- trifft sich mit einer neuen großen Welle , die ans Ufer schwappt, sie wirft mich um... in mir quietscht das kleine Mädchen, das Freude hat an diesem KopfüberKopfunter im Meer und in mir pocht die Frage von Miriam, der 95 jährigen Miriam aus dem Altersheim, die sie mir vor wenigen Tagen am Abendbrottisch stellte: Glaubst du, dass es in Deutschland noch einmal so sein könnte?
Was die Menschen mir erzählen über ihre Kindheit unter den Nazis, muss hinein in mein Stück. Ich will diese Erinnerungen, Bilder, Berichte mitnehmen nach Deutschland.
Mich erreicht die Mail eines Freundes, der mit mir zusammen vor wenigen Jahren in Chemnitz auf Gastspielreise war. Dort haben wir unser Stück "Die Jüdin von Toledo" gespielt. Seine dringende Frage: Was können wir Künstler tun, um Nazis etwas entgegen zu setzen? Denn es sind Nazis, die durch die Straßen von Chemnitz ziehen. Und es sind leider auch ganz normale Familien, die mit ihren Kindern auf diese Demonstrationen gehen. Mit ihren Kindern an der Hand marschieren sie an der Seite von AfD und Nazis, rufen "Ausländer raus" und "Deutschland den Deutschen" , haben das Gefühl, endlich etwas für sich zu tun. Sich endlich Luft zu machen und seine Meinung zu sagen. Endlich dagegen zu sein. In was für absurde Bahnen wird da die eigene Meinungsfreiheit gelenkt.
Natürlich gibt es auch die andere Seite in Chemnitz, zum Glück. Große Gegendemonstrationen, in die ich mich, als Chemnitzerin, jetzt gerne einreihen möchte.
Ich frage mich: Wie schaffen wir es, miteinander zu reden? Gemeinsam in einem Boot zu bleiben?
Mein Vater ist seit über einem Jahr tot. Er war ein stolzer Chemnitzer, ich sehe ihn noch unter den Zuschauern bei dem Theaterabend in Chemnitz. Er war stolz auf mich, ich auf ihn- diese Liebe ist so natürlich wie schön.
Alles hängt irgendwie zusammen, denke ich gerade. Seine Liebe zu Feuchtwanger, mein Stück "Die Jüdin von Toledo", mein Chemnitz, meine Reise hierher, meine Suche. Ich.
Mein neues Stück liegt vor mir. "Die Brücke nach Haifa". Und Chemnitz wird darin eine Rolle spielen müssen.
Ich schwappe durchs tosende Mittelmeer, lasse die Wellen auf mich zurollen. Mare mediterranea- dieses Meer hat es in sich. Die Wellen sind tückisch, mitreißend im wahrsten Sinne des Wortes. Weiße Schaumkronen, am Strand glückliche Kinder, jüdische und arabische Familien nebeneinander.
Ab und zu pfeift der Bademeister einen Schwimmer zurück, der sich zu weit hinaus wagt. Erst ruft er auf hebräisch, und wenn das nicht passt, legt er auf arabisch nach, oder eben englisch- für die unvernünftigen Touristen.
Mich braucht er nicht zu rufen, ich bin die Wassernixe, wälze mich in den Uferwellen wie eine Robbe im Sand und schreibe in Gedanken.
